Erstes Zwischenfazit auf dem Weg zum modernen Erbrecht
Erstes Zwischenfazit auf dem Weg zum modernen Erbrecht
Erstes Zwischenfazit auf dem Weg zum modernen Erbrecht
1. Einleitung
Am 29. August 2018 hat der Bundesrat die Botschaft zur Modernisierung des Erbrechts1 zuhanden des Parlaments verabschiedet. Diese Kommentierung zieht ein erstes Zwischenfazit hinsichtlich der vorgesehenen Vergrösserung der erblasserischen Verfügungsfreiheit und der Härtefallregelung für faktische Lebensgemeinschaften. Zudem fasst er die wichtigsten vorgesehenen Klarstellungen von bisher umstrittenen Punkten zusammen.
2. Änderungen der Pflichtteile
Grundsätzlich gilt, dass die gesetzliche Erbberechtigung und die Erbanteile der gesetzlichen Erben unverändert bleiben. Hat der Erblasser letztwillig nicht verfügt, wird die Erbschaft auch nach der Revision – vorbehältlich eines allfälligen Unterstützungsanspruchs des überlebenden faktischen Lebenspartners (vgl. Ziff. 3 hiernach) – gleich aufgeteilt wie bisher.
Der Bundesrat ist jedoch zum Schluss gekommen, dass auf den Elternpflichtteil verzichtet werden kann, und hat diesen zu Recht ersatzlos gestrichen.2 Ebenfalls zeitgemäss ist die Reduktion des Pflichtteils der Nachkommen von ¾ auf ½ des gesetzlichen Erbteils (Art. 471 E-ZGB).3 Die verfügbare Quote beträgt folglich ½ des Nachlasses, wenn der Erblasser nur einen Ehegatten bzw. nur Nachkommen oder einen Ehegatten und Nachkommen hinterlässt (Art. 471 E-ZGB i.V.m. Art. 462 ZGB).4 Abweichend vom geltenden Recht verfügt der Erblasser in Zukunft somit über die gleiche Testierfreiheit unabhängig davon, ob er von der Möglichkeit der Nutzniessung nach dem (hinsichtlich der verfügbaren Quote in Einklang gebrachten) Art. 473 E-ZGB Gebrauch macht.5
Der Bundesrat schlägt auch eine spezifizierte Regelung zum Pflichtteilsrecht während eines Scheidungsverfahrens (Art. 472 Abs. 1 E-ZGB, in Angleichung an Art. 204 Abs. 2 und 122 ZGB) vor:6 Stirbt ein Ehegatte während des hängigen Scheidungsverfahrens, kann der überlebende Ehegatte seinen Pflichtteil nicht geltend machen, wenn (1) beide Ehegatten der Scheidung zustimmten oder (2) die Eheleute im Todeszeitpunkt bereits während mindestens zwei Jahren getrennt gelebt haben.7 Sein gesetzliches Erbrecht verliert ein Ehegatte aber auch in Zukunft erst bei formell rechtskräftigem Scheidungsurteil (Art. 120 Abs. 2 E-ZGB, was sich bereits aus Art. 462 ZGB ergibt).8 Dies bedeutet, dass ihm der gesetzliche Erbteil für die eben genannten Fälle gemäss Art. 472 Abs. 1 E-ZGB nur testamentarisch entzogen werden kann. Lediglich die ehe- und erbrechtlichen Begünstigungen fallen von Gesetzes wegen weg, soweit keine abweichende Anordnung getroffen wurde (Art. 120 Abs. 3, Art. 217 Abs. 2 und Art. 241 Abs. 4 E-ZGB)9. Aufgrund der vorgesehenen Zweijahresfrist dürften zudem auch die in der Praxis oft eingesetzten Scheidungsklauseln weiterhin Gebrauch finden.10
Die vorgesehenen Pflichtteilsänderungen resultieren in der (von der Gesellschaft) gewünschten Vergrösserung der verfügbaren Quote (Art. 470 ZGB) des Erblassers. Ausserdem dürften sie auch die erbrechtliche Unternehmensnachfolge erleichtern. Eine Vernehmlassung für weitere gesetzliche Bestimmungen ist für Anfang 2019 geplant. Es bleibt dabei zu hoffen, dass der Bundesrat die – zeitgemässe und sich im europäischen Kontext durchsetzende – Möglichkeit der Stundung von Pflichtteilsschulden zumindest im Rahmen der Unternehmensnachfolge berücksichtigt.11
3. Härtefallregelung: Unterstützungsanspruch des faktischen Lebenspartners
Konkubinatspaare sollen nach dem Wunsch des Parlaments nicht mit den Ehepaaren gleichgestellt werden. Art. 606 E-ZGB sieht jedoch einen neuen Unterstützungsanspruch (und nicht mehr ein Vermächtnis) für den überlebenden faktischen Lebenspartner in stossenden Fällen vor, wenn er in Not geraten würde und auf Sozialhilfe angewiesen wäre, obschon die im Nachlass vorhandenen Mittel dies verhindern könnten. Der Anspruch in Form einer monatlichen Rente ist sinnvollerweise zwingend und eine neu geschaffene Erbschaftsschuld (Art. 474 Abs. 2 E-ZGB).12
Der Unterstützungsanspruch besteht unter zwei kumulativen Voraussetzungen: (1) im Todeszeitpunkt hat das Paar seit mindestens fünf Jahren in einer faktischen Lebensgemeinschaft (stabiles Konkubinat gemäss Rechtsprechung)13 gelebt, und (2) die überlebende Person gerät infolge des Todes des Erblassers in Not gemäss Art. 328 ZGB, das heisst, sie kann ihr sozialhilferechtliches Existenzminimum selbst nicht decken (Art. 606a Abs. 1 E-ZGB).14 Die vom Bundesrat verlängerten Fristen sind erfreulich: Der Anspruch ist innert drei Monaten nach dem Tod des Erblassers schriftlich bei der Behörde am letzten Wohnsitz des Erblassers (Art. 28 Abs. 2 ZPO) anzumelden (simple schriftliche Erklärung)15 und innert einem Jahr einzuklagen oder direkt (ohne Anmeldung, aber ebenso innert der dreimonatigen Verwirkungsfrist) gerichtlich geltend zu machen (Art. 606b E-ZGB).16 Es ist dann Sache des Gerichts, den Betrag der monatlichen Rente, den Höchstbetrag der Unterstützung sowie die Art und Weise der Sicherheit festzulegen (Art. 606c E-ZGB) und allenfalls auch später abzuändern (Art. 606d E-ZGB). Dabei ist es aus Gründen der Rechtssicherheit und der Planbarkeit der Erbteilung erfreulich, dass der Gesamtbetrag des Anspruchs gemäss Art. 606a Abs. 2 E-ZGB in doppelter Hinsicht beschränkt sein soll: Er darf weder ¼ des erblasserischen Nettovermögens (Vermögen minus Erblasserschulden, ohne Berücksichtigung der Erbschaftsschulden und allfälliger Ausgleichungsforderungen) noch die Summe der monatlichen Renten bis zum vollendendeten 100. Altersjahr des überlebenden faktischen Lebenspartners (ist v.a. bei besonders umfangreichen Erbschaften relevant) übersteigen.17
4. Klarstellungen umstrittener Punkte
Aufgrund der Ergebnisse der Vernehmlassung und der Expertenauffassung schlägt der Bundesrat zudem die folgenden Klarstellungen vor:
4.1 Überhälftige Vorschlagszuweisung
Angesichts der überragenden Bedeutung in der Praxis sind die zwei folgenden Klarstellungen äusserst wertvoll: Erstens soll die überhälftige Vorschlagszuweisung als Rechtsgeschäft unter Lebenden qualifiziert werden (und ist als solches nicht zu eröffnen). Zweitens sind die Pflichtteile von gemeinsamen und nichtgemeinsamen Nachkommen auf Basis der gleichen, höheren Pflichtteilsberechnungsmasse zu berechnen (Art. 216 Abs. 2 E-ZGB). Der Bundesrat hat darüber hinaus für die gemeinsamen Nachkommen – in Anlehnung an Art. 473 Abs. 3 (E-)ZGB – eine Wiederverheiratungsklausel als begrüssenswertes Korrektiv eingeführt (Art. 216 Abs. 4 E-ZGB).18
Der Einbezug der überhälftigen Vorschlagszuweisung in die Pflichtteilsberechnungsmasse führt folglich dazu, dass die Vorschlagszuteilung unter Umständen (von nichtgemeinsamen Nachkommen stets und von gemeinsamen bei Wiederverheiratung) herabgesetzt werden kann (Art. 532 Abs. 2 E-ZGB).
4.2 Herabsetzung
Die zweite Klarstellung betrifft die (eher nebensächliche) Herabsetzbarkeit des Intestaterwerbs und die in der Praxis besonders wichtige Herabsetzungsreihenfolge. Die Herabsetzbarkeit des Intestaterwerbs soll neu im Einklang mit der herrschenden Lehre ausdrücklich in Art. 522 Abs. 1 Ziff. 1 E-ZGB statuiert werden und der Intestaterwerb soll als erster (vor den Verfügungen von Todes wegen und den Zuwendungen unter Lebenden) der Herabsetzung unterliegen (Art. 532 Abs. 1 E-ZGB).
Weiter soll die oben erwähnte Qualifikation der überhälftigen Vorschlagszuweisung als Zuwendung unter Lebenden im Einklang mit einem grossen Teil der Lehre als erste lebzeitige Zuwendung – vor den Zuwendungen aus der gebundenen Selbstvorsorge – der Herabsetzung unterliegen (Art. 532 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 E-ZGB).19
4.3 Erbrechtliche Behandlung der gebundenen Vorsorge
Als letzte, m.E. unglückliche Klarstellung ist vorgeschlagen, dass die gebundene Selbstvorsorge (Säule 3a) bei Bank- und Versicherungssparen nicht in den Nachlass fällt. Dem Begünstigten soll dazu neu auch beim Banksparen ein direkter Anspruch aus der Säule 3a eingeräumt werden (Art. 82 Abs. 4 E-BVG). Dies führt somit dazu, dass die Ansprüche aus Banksparen voll pflichtteilsrelevant (Art. 476 Abs. 2 E-ZGB; bei Versicherungssparen nach wie vor nur der Rückkaufswert des Versicherungsanspruchs, falls es einen gibt, vgl. Art. 476 Abs. 1 E-ZGB) und herabsetzbar sein werden (Art. 529 und Art. 532 Abs. 2 E-ZGB).20
- 1. Botschaft zur Änderung des Zivilgesetzbuches (Erbrecht) vom 29. August 2018, BBl 2018, S. 5813 ff. («Botschaft»), und die Änderungen im Zivilgesetzbuch.
- 2. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.2.2.
- 3. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.2.3. und 3.2.6 sowie S. 5880.
- 4. Botschaft mit weiteren Konstellationen, a.a.O., Ziff. 3.2.5.
- 5. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.4.3.
- 6. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.3.3 sowie S. 5878 und S. 5881 ff.
- 7. Botschaft, a.a.O., S. 5880 f.
- 8. Botschaft, a.a.O., S. 5881.
- 9. Botschaft, a.a.O., S. 5878 ff.
- 10. Botschaft, a.a.O., S. 5877 f.
- 11. Vgl. Alexandra Geiger, Kurz und bündig: Vernehmlassung des Vereins Successio zum Vorentwurf der Erbrechtsreform, successio 2016, S. 325.
- 12. Botschaft, a.a.O., S. 5883.
- 13. BGE 138 III 97 E. 2.3.3.
- 14. Botschaft, a.a.O., S. 5887 ff.; BGE 136 III 1 E. 4; SKOS, Das soziale Existenzminimum, S. 3-5.
- 15. Botschaft, a.a.O., S. 5892.
- 16. Botschaft, a.a.O., S. 5892.
- 17. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.8. unter Berücksichtigung der Steuerfragen und mit Berechnungsbeispielen, und S. 5890.
- 18. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.5. mit Berechnungsbeispielen, und S. 5878 f.
- 19. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.7 und S. 5884 ff.
- 20. Botschaft, a.a.O., Ziff. 3.6. mit Berechnungsbeispielen sowie S. 5883 ff.